(6) “Viele Nutztiere würden gar nicht existieren, wenn wir sie nicht töten und essen würden…”

Einwand (6): In-Existenz-Bringen als Rechtfertigung

„Viele Nutztiere würden gar nicht existieren, wenn wir sie nicht züchten würden, um sie zu töten und zu essen. Eigentlich hat sogar das Schwein selbst das größte Interesse am Speck. Da sie uns ihr Leben verdanken, dürfen wir uns dafür im Gegenzug auch etwas nehmen.“

Obwohl dieses Argument dem vorherigen (5) ähnelt, unterscheidet es sich doch in einer wichtigen Hinsicht: Es leitet die ethische Zulässigkeit nicht aus der hinter der Nutzung  und Zucht von Nutztieren stehenden Absicht ab, sondern aus dem angeblichen Nutzen, den Tiere daraus haben. Somit ist diese Version ethisch gesehen anspruchsvoller.

Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, stimmt natürlich: Viele Nutztiere verdanken ihr Leben der Tatsache, dass wir sie letztendlich töten. Aber lässt sich das Töten mit dem Geschenk des Lebens rechtfertigen? Oder handelt es sich dabei nicht um eine eher merkwürdige Argumentation?

Widerlegungen:

(6.1) Vergleich von Existenz und Nicht-Existenz problematisch

Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, mag es intuitiv plausibel sein, dass ein Wesen einen Nutzen davon hat,  in die Welt gesetzt zu werden. Philosophisch betrachtet allerdings, ist dies weitaus weniger offensichtlich. Denn die Nutzenbehauptung setzt die Vergleichbarkeit von Existenz und Nicht-Existenz voraus. Aber hierbei gibt es das logische Problem, ob es überhaupt möglich ist, Existenz und Nicht-Existenz aus der subjektiven Perspektive des betreffenden Individuums zu vergleichen. Anders ausgedrückt: Kann es für ein Individuum besser sein zu existieren als nicht zu existieren? Es scheint eher unmöglich, diese beiden Zustände zu vergleichen. Denn im Fall der Nicht-Existenz gibt es ja gar kein Individuum, für das es schlechter wäre, nicht zu existieren. Insofern kann für das betreffende Wesen Existenz gar nicht besser als Nicht-Existenz sein.

(Ob die Welt dadurch insgesamt besser wäre, was Utilitaristen interessieren würde, ist hier irrelevant. Denn das Argument lautet ja, dass es für die betreffenden Tiere besser sei.)

(6.2) In-Existenz-Bringen nicht notwendigerweise etwas Gutes

Selbst wenn – alle philosophischen Spitzfindigkeiten mal beiseitegelassen – es weniger problematisch wäre, Existenz und Nicht-Existenz zu vergleichen, wäre die ethische Frage damit trotzdem noch lange nicht beantwortet. Denn daraus würde immer noch nicht folgen, dass man dem betreffenden Wesen etwas Gutes tut, wenn man es in Existenz bringt. Dieses Argument gründet aber genau auf dieser Annahme, da es nahelegt, dass wir Tiere sozusagen als Gegenleistung dafür töten und essen dürfen, dass wir ihnen das Leben geschenkt und ihnen damit etwas Gutes getan haben.

Bei diesem Argument wird übersehen, dass Leben von sehr unterschiedlicher Qualität sein kann, und dass es durchaus eine so geringe Lebensqualität geben kann, dass das Leben für ein betreffendes Individuum nicht mehr lebenswert ist. Wenn man ein Wesen in eine vollkommen elende Existenz bringt, dann kann man sicherlich nicht von einem Nutzen sprechen und dies auch nicht als Rechtfertigung anführen.

Nun ist die Lebensqualität der meisten Tiere in Massentierhaltungsbetrieben oder in Tierversuchslaboren zweifelsohne sehr niedrig – ganz zu schweigen von der kurzen Zeitspanne, die ihnen vergönnt ist. Natürlich ist es quasi unmöglich zu bestimmen, ob ein konkretes Tier die Nicht-Existenz einer vollkommen elenden und erheblich verkürzten Existenz vorziehen würde. Dennoch kann man wohl ziemlich sicher annehmen, dass die meisten Tiere, wenn sie die Wahl hätten, sich für eine sofortige  Beendigung ihres gegenwärtigen Elends entscheiden würden. Und das alleine reicht schon, um die Annahme in Frage zu stellen, dass diesen Tieren etwas Gutes getan wird, als sie in die Welt gesetzt werden.

(6.3) In-Existenz-Bringen bedeutet keine Verfügungsberechtigung, sondern Verpflichtung zur Fürsorge

Selbst wenn die Lebensqualität von Nutztieren in Massentierhaltungsbetrieben und Tierversuchslabors hoch genug wäre, damit sie das Leben der Nicht-Existenz vorziehen würden, würde daraus nicht folgen, dass wir ihnen im Gegenzug für diesen Nutzen dann (in einem gewissen Rahmen) Leiden zufügen und ihr Leben nehmen dürfen. Denn dass man ein Wesen in die Welt setzt, gibt einem keine Verfügungsberechtigung über dieses Wesen, sondern legt einem die Verpflichtung zur Fürsorge auf.

Nehmen wir als Beispiel das Verhältnis zu unseren Kindern. Kinder in die Welt zu setzen, bedeutet für die Kinder zunächst auch einen Nutzen. Aber mit Sicherheit ergibt sich daraus kein Recht, sie beliebig behandeln zu dürfen – nicht einmal innerhalb eines gewissen Rahmens, d.h. solange ihr Leben immer noch lebenswert bleibt. Natürlich dürfen wir unsere Kinder erziehen und von ihnen dabei ein gewisses Maß an Gehorsam und Folgsamkeit fordern. Aber deswegen sind wir sicherlich nicht auch nur im Entferntesten dazu berechtigt, als Gegenleistung für die aus unserer Hand erhaltene Segnung in Form ihrer Existenz über ihr Leben nach Belieben zu verfügen. Stattdessen sind wir verpflichtet, uns um sie zu kümmern und sie zu versorgen – zumindest solange, wie sie das nicht selbst tun können und von uns abhängig sind.

Warum sollte das dann aber anders sein, wenn es um Tiere geht? Der einzige relevante Unterschied in diesem Fall ist, dass die meisten domestizierte Tiere, im Gegensatz zu Menschkindern, nie in der Lage sein werden, ein unabhängiges Leben zu führen. Daher endet unsere Verpflichtung, uns um sie zu kümmern und sie zu versorgen, auch erst mit ihrem Tod.